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2012 wird die Urheberin der
bedeutendsten historiografiekritischen Innovationen seit dem 2.Weltkrieg –die Subaltern Studies Group– 30 Jahre alt, eigentlich.
Uneigentlich kommt sie, soweit es die Rezeption in Deutschland betrifft,
wie frisch aus der Presse gefallen daher. So ungefähr in
10-Jahres-Intervallen geruht der akademische Betrieb im Land der Dichter
und Denker solche die internationale Forschungslandschaft aufmischenden
Neu-Ansätze nichtweißer WissenschaftlerInnen etwas breiter zur Kenntnis
zu nehmen, meist noch mit gehöriger Verspätung beginnend. Das galt bis kürzlich
für Saids "Orientalism"[1] und es gilt noch heute für die "Subaltern Studies", die sonst ja nicht nach 30 Jahren
erst wieder von vorne erklärt werden müssten. Die bisherigen –sehr
marginalen– Rezeptionswellen haben hier keine signifikanten Spuren
hinterlassen[2].
Übrigens kommen genau diese Sachverhalte perfekt
zum exemplarischen Ausdruck im entsprechenden Wikipedia-Eintrag: Die
Deutschen haben es bislang gerade mal zur Übersetzung aus der
englischsprachigen Wikipedia gebracht–
und zu einer uninspirierten,
eigenkenntnisfreien sowie fehlerhaften dazu[3]. So ist es wenig
erstaunlich, dass der jüngsten Rezeptionswelle –im Gefolge des
Erscheinens von Dipesh Chakrabartys "Europa als Provinz" auf deutsch[4]
in einem renommierten Bildungsverlag– wieder etwas von einer
vermeintlichen Neu-Entdeckung z.B. des Seeweges nach Indien anhaftet, wo
der doch bloß zu Zeiten verpasst und verschlafen, übersehen und
vergessen worden war. Außerdem versteht man die immer so schlecht.
Wenn wir also zum 30.Geburtstag der Subaltern Studies Group einen gültigen Überblick ihrer Geschichte und Gegenwart,
Inhalte und Bedeutung skizzieren wollen, was Zweck dieser Arbeit ist, dann muss für Deutschland immer auch der eigentümliche Rezeptionsverlauf
mitbedacht werden, der die klare Sicht auf den Gegenstand durch seine Versäumnisse und Verspätungen, Verzerrungen, Verfehlungen und
Verständnislücken behindert. Das ist zunächst Sache des ersten Abschnitts. In einem zweiten Schritt geht es um die Vertiefung zentraler
Inhalte und weiter reichender Bedeutungen von "Subaltern Studies", wobei ein Spezifikum gerade darin zu sehen ist, dass sich solcherlei stets
auf hohem Abstraktionsniveau und äußerst selbstkritisch innerhalb der Gruppe reflektiert und diskutiert findet. Am Beispiel einer
herausragenden Strategiedebatte mit den Protagonisten Sarkar, Chakrabarty und Pandey einerseits sowie der inhaltlichen Dekonstruktion unhaltbar
eurozentrischer Ideologeme wie dem AMP-Modell[5] zum Andern wird der besondere Charakter der Subaltern Studies eingehend ausgeleuchtet.
Von dort aus schließt sich im Weiteren mit Chakrabartys "Europa provinzialisieren!" der Kreis zu einer zusammenfassenden Würdigung der
Subaltern Studies, ihrer revolutionären historiografischen Verdienste und ihrer eigentümlich verkürzten und dünnen Rezeption in
Deutschland. Der dritte Teil charakterisiert, die erreichten Erkenntnisse zuspitzend, die
Subaltern Studies als veritable Befreiungsbewegung und gehört dann hauptsächlich Gayatri Spivak, die im Moment, da die Deutschen tröpfchenweise
mit Anläufen einer Rezeption ihrer Klassiker beginnen, schon wieder im Flugzeug sitzt, um "von der Postkolonialität zum Globalismus überzugehen, zu
einem Globalismus von unten" freilich, der der Einsicht Rechnung trägt, dass die globale Front von heute ländlich und keineswegs urban sei[6].#01
1.) Subaltern Studies
–
wie sie wurden, was sie sind und
ob sie in Deutschland nochmal richtig
ankommen
A) Der förmlichen Gründung der Subaltern Studies Group 1982 durch
den in Kolkata ausgebildeten indischen Historiker Ranajit Guha gingen langjährige intensive und interkontinentale Fachdiskussionen zur
indischen Kolonialgeschichte voraus, die im Projekt eines
historiografischen Umsturzes bisheriger Geschichtsproduktionen zu Indien mündeten. Noch im gleichen Jahr erschien ihre erste Publikation und mit
ihr die manifestativ begründete Zielvorgabe, die britisch-indische ebenso
wie die nationale Geschichtsschreibung als Elite-Historiografie kenntlich
zu machen, wobei die nachkoloniale Variante mit der unkritischen Übernahme eurozentrischer Prämissen nur die Farce einer 'indischen'
Nacherzählung kolonialer Modernisierungslegenden hervorgebracht hätte.
Darunter fielen auch die orthodox-marxistischen Versuche, Indiens
Geschichte für den westlich-modernen Rahmen passend umzuschreiben, um so
zu belegen, dass Indien sehr wohl dessen definitorisch vorgegebene
gesellschaftlichen Entwicklungsstadien durchlaufen hätte und somit als
vollwertige Zivilisation qualifiziert sei.
Die offenkundige Wiederholung der alten Herrschaftsgeschichte
fand ebenso im Politischen und Sozialen ihren Niederschlag, wobei
insbesondere auch fortschrittliche und kommunistische Funktionäre und Institutionen
deutlich als zur Elite gehörig sichtbar wurden. Während der 70er Jahre
hatten sie durch ihre staatsnahen Haltungen inklusive vielfältiger
Repressionsmaßnahmen gegen emanzipatorische oder rückständig genannte Volksbewegungen ihren Kredit
bei "den Massen" verspielt. Umgekehrt konstituierten gerade die
sich nun als selbstmächtige und politbewusste Gestalter ihres eigenen
Schicksals –
und genau dort setzten die Mitglieder der Subaltern
Studies Group an, indem sie gegen die hegemonialen Vereinnahmungsversuche nationalbürgerlichen Herrschaftswissens die
autonomen Beiträge der unteren Schichten als eigenständige Befreiungsgeschichten
herauszuarbeiten unternahmen. Dazu mussten vor allem auch Methoden
des Gegen-den-Strich-Lesens vorhandener oder des Suchens, Findens und
Erschließens übersehener und vernachlässigter Quellen bzw. ganz neuer
Quellenarten erst einmal entwickelt werden.
Diese Hinwendung zum 'Subalternen' war dabei von Beginn an
nicht anti-marxistisch, sondern im Gegenteil als Erneuerung und
Alternative zur erstarrten Orthodoxie konzipiert –
vor allem inspiriert
durch Gramscis Hegemoniebegriff (allerdings nutzenorientiert modifiziert, indem
sein revolutions- und staatstheoretisches Korsett gelockert und er quasi von seinem subaltern-bäuerlichen Ende her
neu eingelesen wurde). Und sie war auch alles andere als nur
akademisch, nämlich stattdessen stets verbunden mit den realen Subalternen
und ihren Kämpfen –
angefangen bei Guha selbst, der schon in den frühen 70er Jahren z.B.
bei den Naxaliten hospitierte[7], bis hin zur stark in entlegensten
Adivasi-Gebieten sozial-aktiven und lernend engagierten Spivak, die besonders für die von ihr so prägnant
formulierte Leitfrage "Can the Subaltern speak?"[8] berühmt wurde.
Mit Spivak können wir die 80er der Subaltern Studies
auch abschließen und zusammenfassen: In den erschienenen 6 Bänden (plus
einer Selection) befassten sich "postkoloniale"[9]
WissenschaftlerInnen kollektiv von einem innovativen Ansatz her mit
bislang unbeachteten Themen und Akteuren in neuen Fragestellungen und
vollzogen so im globalen akademischen Bezugssystem den unverschämten
Aufstand "rückständiger" Subalterner nur nach, dabei ganz
ähnliche Nervositäten beim Establishment erzeugend. Die Bände enthielten detaillierte Fallstudien und
prägnante Einzelanalysen
ebenso wie historiografische Dekonstruktionsarbeiten und elaborierte
Ideologiekritiken[10]. Ein Alleinstellungsmerkmal bildeten die in der
laufenden Praxis des subalternen Projekts auf hohem Abstraktionsniveau –und teils nahezu
selbstzerfleischend– kritischen Reflektionen eigener
Erkenntnisgrenzen und #02 grundsätzlicher Schwierigkeiten beim Erfassen und
Erforschen der Subalternen als AutorInnen einer eigenen (vielleicht
unmöglichen)
Geschichte - nicht etwa bloß als Gegenstand einer neuen Disziplin für
ansonsten unverändert forterzählende Meister. Spivak problematisierte
genau diese Haltung privilegierter Gebildeter, über oder auch
"für" die Subalternen zu dozieren und suchte nach Wegen, jene
selbst im eigenen Recht mit ihren eigenen Geschichten nicht zum Sprechen,
sondern zum (bislang gelehrt blockierten) Gehör zu bringen.
In den 90er Jahren, die nur noch 4 Bände (plus einen Reader) der Subaltern Studies Group sahen, waren die Akzente stark
in Richtung solcher erkenntnistheoretischer und repräsentationskritischer
Erwägungen verschoben, was Sumit Sarkar zu seiner scharfen Verfallskritik[11] samt
Rückzug aus der Gruppe veranlasste. Die maßgebliche 'Rezeption' in Deutschland bezog sich tatsächlich, dazu gleich
mehr, vorwiegend auf DIESE Periode Subalterner Studien. Im neuen
Jahrtausend hat es erst 2 Bände (plus einen kritischen Rückblick)
gegeben, die neuerdings unter Themenschwerpunkten laufen: "Community,
Gender and Violence" für Band 11 sowie "Muslims, Dalits and the
Fabrication of History" für Band 12. Immerhin hat 2011 wieder eine
hochkarätig besetzte Konferenz in Canberra stattgefunden, deren Titel "Subaltern
Studies – Historical World-making Thirty Years On" hoffen
lässt, dass die subalternen Stimmen auch für die Zukunft noch nicht im historiografischen Nirvana versenkt wurden.
B) Dass sie in Deutschland bislang überhaupt aus einem solchen herausgetreten
wären, lässt sich allerdings nicht behaupten. Von einer nennenswerten Rezeption der
Subaltern Studies hier kann bis weit in die 90er Jahre hinein durchaus nicht geredet werden
– und das ist auch kaum verwunderlich. Die moderne
außereuropäische Geschichte hat im deutschen Wissenschaftsbetrieb der Nachkriegszeit generell und traditionell ein Schattendasein
geführt oder anders herum: Der Schwerpunkt hiesiger Historiker lag überwiegend
selbstgenügsam auf dem eigenen Land, mit den Grenzen maximaler Ausdehnung des
1000jährigen Reiches erstreckte sich ein außereuropäisches Interesse allenfalls noch in den russischen Osten. Eine erste substanzielle
Würdigung der Subaltern Studies (durch die lange Zeit solitäre
Koryphäe deutscher Indienhistoriker: Dietmar Rothermund) konnte bereits die Festschrift zu Guhas 70.Geburtstag 1992,
nämlich den 1994 erschienenen 8.Band, als einen "Höhepunkt" in der Reihe historiografischer Horizonterweiterungen in den sehr instruktiven Forschungsbericht
einbeziehen[12]. Er erschien bezeichnenderweise im
Jahrbuch
für Geschichte Lateinamerikas und rubrizierte die Subaltern Studies im
übergeordneten Kontext der in Deutschland geläufigeren "Geschichte von unten"-Konzepte. Dort verblieben sie denn auch und so
löste sich die ohnehin vage Wahrnehmung entlegener indischer Subalterner in ziemliches Nichts auf. Deren feinbohrende Bearbeitung so bodenlos vieldeutiger Grundfragen wie der nach dem "von" zwischen Geschichte und Unten
überstieg zur Zeit der ersten Rezeptionswelle den Begriffshorizont in Deutschland wohl noch. In recht
kathedersozialistischer Manier war auch gutgemeinte Geschichte von unten hier klar und eindeutig Geschichte
ÜBER unten (und nicht DURCH unten / unten durch). Und dann noch auf englisch geführte
theoriegesättigte Fachdiskussionen! Das brauchte mindestens bis in die 90er doch keine/r in der deutschen Geschichtsgelehrtenrebublik.
Einen Meilenstein im deutschen Rezeptionsverlauf bildete indessen der von Conrad & Randeria herausgegebene Sammelband "Jenseits des Eurozentrismus" 2002, der u.a. (nach 10 Jahren) Chakrabartys "Europa provinzialisieren" als deutsche
Erstveröffentlichung enthielt[13]. Im Rahmen des Berliner Forschungsprojekts AGORA war es hier zum Millennium-Ereignis einer erstmals etwas breiteren Rezeption international
längst anerkannter repräsentationskritischer Ansätze endlich auch in Deutschland
gekommen[14]. Allerdings ist anzumerken, dass die deutschen
Beiträge zum besagten Sammelband nur eben ein #03 Sechstel stellten, der maßgebliche Teil davon aus den Sozialwissenschaften. Für die HistorikerInnen speziell ist
zusätzlich anzuführen, dass auch 2002 in einem sicher nicht altbackenen Verlag (Vandenhoeck & Ruprecht) noch ein
"Kompaß der Geschichtswissenschaft" erscheinen konnte, der der "Orientierung in einer internationalen Forschungslandschaft" mit zunehmender
"Tendenz zur Globalisierung" dienen sollte – und einen Said, Guha, Cohn, Wink, Fanon noch nicht einmal im Register
führte. Symptomatischerweise schließt der Band mit Motzkins Verkündigung vom
"Ende der Meistererzählungen", ohne die Frage nach der Meistererzählung der Geschichte,
nämlich der eurozentrischen, auch nur angerissen zu haben –
und belegt so die oftmals weiterhin ungebrochene Herrschaft dieses historiografischen
Paradigmas[15].
Es ging schon damals seit 10 Jahren darum, ein übermächtiges "hyperreales Europa aus dem Zentrum der historischen Einbildungskraft zu verdrängen",
die von Chakrabarty mit "Europa provinzialisieren!" formulierte Aufgabe,
"sich mit Ideen auseinanderzusetzen, die den modernen Staat(...) legitimieren, um so
diejenigen Kategorien, deren globale Gültigkeit nicht mehr für selbstverständlich genommen werden kann, erneut zum Gegenstand der politischen Philosophie zu machen – genau wie man auf einem indischen Basar verdächtige Münzen ihren Besitzern zurückgibt",
war also ungelöst und in Deutschland sogar ungestellt geblieben. Dass heute, abermals 10 Jahre
später, eben jener Text Chakrabartys (im Verbund mit 7 weiteren zum Buch "Europa als Provinz" ausgeweitet), wieder Furore macht und eine dritte Rezeptionswelle anzufachen scheint, unterstreicht den Befund, dass aller
Aufbrüche am Jahrtausendbeginn zum Trotz ein paar eurozentrismuskritische
Wolken am Himmel der Dichter und Denker(innen auch) doch noch keinen
substanziellen Niederschlag als historiografische Horizonterweiterung
finden müssen. Bloß nicht unterschlagen werden soll jedoch, dass an den
'Schmuddelrändern' deutscher Rezeptionslandschaften immerhin sogar Spivaks Gretchenfrage von 1988 Eingang fand
– und zwar in der symptomatischen Umformulierung: "Spricht die Subalterne
deutsch?"[16] Darin ist, bei aller Anerkennung
für die Aufmerksamkeit, jedoch auch die siebenfache Crux hiesiger Aufnahmeschwierigkeiten der
international immerhin schon durchaus geläufigen subalternen Innovationen
ziemlich komplett enthalten:
Die Rezeption setzt auf fehlleitende Weise verspätet ein, da sie die
Versäumnisse auch gar nicht als Problem erkennt/1. Sie rekurriert auf
eine verkopfte Phase ihres Gegenstands und hierbei in selektiver
Engführung auf eine bestimmte Positionierung innerhalb eines
ursprünglich gleichzeitig breiteren und tieferen innersubalternen
Diskussionsspektrums/2. Der
historische Kontext bleibt unbemerkt oder wird retrospektiv durch einen
soziologisch-theoretischen Tunnel interpretiert/3. Zur formalen
Enthistorisierung[17] kommt so noch die inhaltliche, die die Subaltern
Studies um ihren geschichtswissenschaftlichen und
historiografiekritischen Kern samt dessen organischer Verbindung mit
widerständigen Bewegungen bringt/4. Eine weitere Besonderheit besteht in
der Verdopplung eurozentrischer Behinderungen durch spezifische
Teutozentrismen, als ob bspw. das wichtigste Problem erfasst wäre, wenn
wir das "Experiment des Sprechens oder Schweigens im deutschen
Kontext zu wiederholen versuchen"[18], wo es doch zuerst um die
Hörbehinderungen der Privilegierten ginge, denen die jeweilige Lingua der
Subalternen funktional egal ist/5. Die
Brisanz und Relevanz des subaltern-historiografischen Befreiungsschlags
aus antikolonial-antiimperialistischen Widerstandsbestrebungen heraus wird
in solcher deutsch-sprachlicher Aspektierung historisch verfehlt und so verbleibt als
revolutionäres Potenzial tatsächlich nur noch renitentes Gerede
innerhalb der akademischen Zirkel/6, wie es dann ja im "Plädoyer für eine
parrhesiastische Praxis à la Foucault"[19] als der
Weisheit letzter Schluss auch endet.
Damit wäre in Deutschland genau
jenes Schreckgespenst der Subaltern Studies Realität geworden, das
Sarkar noch etwas einseitig und vergröbernd von einer partiellen Tendenz
zum Menetekel einer vollzogenen Entwicklung an die Wand plakatiert hatte:
Das tödliche Abgleiten in theoretische Welten, die nur noch aus Texten
bestehen/7. Insofern befindet sich nicht nur "sowohl die Rezeption
als auch die Übertragung auf den deutschen Kontext ziemlich am
Anfang"[20], sondern die Subaltern Studies sind damit zum
Start hier auch gleich noch ins interpretative Abseits gestellt. Da kann
Chakrabartys 1992er-Aufsatz im Rahmen seiner deutschen Neuerscheinung im o.g. Buch "Europa als Provinz" in den 10er Jahren die
zwischenzeitlich faktisch erstarrte Rezeption gleichsam bruchlos wieder
anknipsen und einen dritten Versuch einläuten, endlich 2.)
zu den zentralen Inhalten und tieferen Bedeutungen
der Subaltern Studies vorzustoßen.
In der Tat besteht besagtes Buch zur Hälfte aus in der
internationalen Diskussion bereits seit 10 bis 20 Jahren bekannten Texten –
und das macht zunächst mal
klar, wie tief der Schlaf der Geschichtsgelehrten in Deutschland war, wenn
damit ein aufstörender Weckruf erzeugt wurde. Die Chancen, dass
'postkoloniale' Eurozentrismuskritik und subalterne
Historiografierevisionen in hiesigen Geistes-, Sozial- und
Kulturwissenschaften doch noch ankommen mögen, sind also nicht alle
vergeben. Der Mittelteil dieser Arbeit soll den möglichen
Vermittlungsprozess unterstützen und vom Wecken zum Aufstehen
weiterleiten helfen. #04
A) Dazu ist es unabdingbar, die Überwucherungen der
originalen Subaltern Studies durch westlich-inspirierte Geschichte
von unten-Einrahmungen einerseits und unhistorische
Postkolonial-Theoretisierungen andererseits klar zurückzuschneiden. Dass
die Subaltern Studies nicht nur "just another history from
below" im Gefolge etwa E.P.Thompsons[21] darstellen, sondern durch
die Spezifik des zusätzlichen kolonial-rassistischen Gewaltverhältnisses
zu einer ganz neuen Qualität kamen, die insbesondere durch die
anti-elitistische Wendung zu üblicherweise als vorpolitisch oder
archaisch denunzierten Äußerungen ländlichen Widerstands und ihre
dezidierte Abkehr von eurozentrischen und nationsfixierten Teleologien
einen historiografischen Paradigmenwechsel hin zu einer auch anders
möglichen Moderne einleitete, war schon angesprochen worden. Den
vorgegebenen Leitlinien "einer Geschichte von unten, wie sie von der
englischen marxistischen Historiografie entwickelt wurde"[22],
folgten die Subaltern Studies in Indien also nur so bedingt, dass
es irreführend wäre, sie primär in diesem Rahmen zu interpretieren.
Die zweite Überwucherung ist jüngeren Ursprungs und hat das
Bild von den Subaltern Studies –so überhaupt vorhanden– gerade
in Deutschland ziemlich fest im Griff. Es ist die ebenfalls bereits
erwähnte retrospektive Theoretisierung von einem akademischen
Postkolonialismus aus, der konzeptionell zwar an die von den Subaltern
Studies aufgemachte Textualität von Machtverhältnissen und ihrer
Dokumente[23] anknüpft, allerdings ohne deren historische, soziale und
politisch-praktische Dimensionen mitzunehmen. So werden einer Postcolonial
Theory, die eigentlich nur ein Kind der Cultural Studies der
80er Jahre war, rückwirkend noch ein Said oder eine Spivak einverleibt,
die beide zu dieser Richtung tatsächlich deutlich Distanz hielten. Die
nicht vor 1989 überhaupt erst auf den Begriff gebrachte Postcolonial
Theory[24] kam so in ihrer zweiten Rezeptionswelle in Deutschland als
der Leitstern der Subaltern Studies 'rüber und übersteigerte den
literarischen Teilaspekt zum soziophilosophischen Gesamtkunstwerk einer
bloß noch akademischen Hochtheorie.
Solchermaßen ihren beiden ärgsten rezeptiven
Überwucherungen etwas entzerrt, zeigen sich die Subaltern Studies
besser kenntlich als zunächst fest auf dem (indischen) Boden der
wirklichen und turbulenten 70er Jahre verwurzelt: in der Situation einer
nur unvollkommenen Dekolonisierung, im organischen Kontext vielfältiger
Befreiungsbewegungen und als paradigmatischer Umsturz der etablierten
Geschichtsschreibung. Das revolutionäre Potenzial ihrer Sprengkraft und
die auch marxistische Erneuerungsleistung durch ihr beherztes Abschneiden
veralteter eurozentrischer Zöpfe wird im folgenden Abschnitt an 2
Beispielen vertieft und nebenbei als spezifisch indisches Verdienst
tapferer Subaltern-MarxistInnen gewürdigt.
B)
Das Aufsprengen bisheriger Herrschaftshistoriografien und ihrer
nachkolonialen Abklätsche als elitäre Geschichte von Oben, die
Fokussierung jener von Unten und ihrer Widerstände mittels des auf Indien
umgemünzten Hegemonie-Konzepts Gramscis, die Erhebung der Subalternen in
den Stand autonomer Geschichtsfähigkeit im Zwangsfeld kolonialer und
kapitalistischer Gewaltverhältnisse sowie die fundamentale
Infragestellung der herrschenden Geschichtsschreibung als quasi-objektives
Fach markieren Aufbrüche im historiografischen Block, die zu erheblichen
und auch nicht mehr hintergehbaren Erschütterungen eurozentrischer
Gewissheiten einerseits und zur selbstbewussten Anmeldung bislang
marginalisierter Geschichten andererseits geführt haben. Die subalternen
Innovationen haben bis Ende der 80er darüberhinaus noch weitere Kreise
gezogen: Ausweitungen über Indien hinaus etwa nach Lateinamerika und
Australien, methodische und theoretische Grundlagenforschungen zur
eventuellen Erreichbarkeit nicht-eurozentrischer bzw.
anti-essenzialistischer Wissenschaft, die robuste Installation neuartiger
feministischer Fragestellungen im Subaltern-Studies-Frameset durch
die Erhebung der mehrfach verstummten nicht-weißen Frau. Nicht zuletzt
regten sie die Herausbildung der Postcolonial Studies mit an, zu
denen sich während der 90er Jahre ein intensives Austauschverhältnis
entwickelte, was in der deutschen Rezeption dann wie gesehen zu einer gründlich
verdrehten Wahrnehmungsmutation führte. Die aktuelle Neuauflage
Chakrabartys mag hier auch in dieser Hinsicht zu einer Entwirrung
beitragen können, indem die zusammengeklatschten Stränge wieder etwas
auseinandergefieselt werden. Dass hier allzu überformend zusammenwachse,
was eigentlich getrennt gehört, war ja bereits ein Punkt, an dem Sarkars
gestrenge Kritik sich entzündete. Chakrabarty teilte dagegen nie die
Ansicht, „die Subaltern Studies seien durch die schlechte Gesellschaft
der postkolonialen Theorie vom rechten Weg abgekommen“, sondern
bewertete „die unumgänglichen Zusammenhänge“[25] positiver. Beide
vermochten allerdings, Subaltern Studies und Postcolonial Theory
konzeptionell auseinanderzuhalten. #05
C)
Am somit freigelegten subalternen Strang entlang zurück in die
Anfangszeit der Subaltern Studies hangelnd, wird ein weiteres
Verdienst ihrer innovativen Historiografiekritik deutlicher, das noch
nicht annähernd angemessen gewürdigt wurde: Die genuin marxistische
Erneuerungsleistung, die ein orthodox erstarrtes, eurozentrisch borniertes
und politisch angepasstes Standbild aus seiner Versteinerung heraus wieder
für relevante Befreiungsbewegungen wissenschaftspraktisch in Gang
brachte, reanimierte, nutzbar machte. Dass es sich dabei nicht bloß um
eine Indisch-Übersetzung des „Geschichte von unten“-Konzepts ähnlich
der Art handelte, wie sich zuvor auch Indiens marxistische
Geschichtsschreibung insgesamt brav an die abendländischen Rahmen und Prämissen
gehalten hatte, war schon benannt worden. Dass die Befreiung marxistischer
Geschichtsschreibung aus ihrer eurozentrierten Unmündigkeit, mithin nicht
weniger als die Rettung der marxistischen Substanz aus ihrer
intellektuellen Sackgasse, im politisch unabhängigen Indien gerade
indischen HistorikerInnen gelang, ist durchaus eine herkulische Leistung für
ein Land, das in klassisch-marxistischer Lesart „unabweisbar
eurozentrisch“[26] verzeichnet wird als in vorpolitischer Stagnation,
abergläubischer Rückständigkeit und orientalischem Despotismus
gefangene Ansammlung von „kleinen, halb barbarischen, halb zivilisierten
Gemeinwesen“[27]. Dem britischen Kolonialismus kommt in dieser Sicht
–bei allem angelegentlichen Bedauern der dabei notwendigen Brutalitäten–
die zu begrüßende Zivilisierungsmission durch „Zerstörung der alten
asiatischen Gesellschaftsordnung und Schaffung der materiellen Grundlage
einer westlichen Gesellschaftsordnung in Asien“[28] zu.
Das hier zugrundeliegende imperialherrschaftliche
Geschichtsbild musste im unabhängig gewordenen Indien noch mehr als während
der nationalen Befreiungskämpfe für marxistische Geschichtsforschende zu
einem Problem, ja zu einer Zumutung werden. Auf verschiedenste Weise quälte
man sich mit einer überzeugenden Einpassung ins vorgegebene
Entwicklungsschema ab, bspw. indem bestimmte Elemente der sog.
„asiatischen Produktionsweise“ als indische Varianten des Feudalismus
interpretiert wurden oder nach Marx noch unbekannt gewesenen Belegen einer
„normalen“ kapitalistischen Entwicklung in Indien gesucht wurde[29].
Es entstanden freilich auch über sich hinausdeutende Arbeiten innerhalb
der vorgelegten Trassenführung wie etwa durch Sharma oder Habib[30].
Dennoch wurden die eingefahrenen Gleise altmarxistisch reproduzierter
Kolonialhistoriografie erst in den 70ern (vor dem Hintergrund enttäuschter
Sozialismusvorstellungen, politischer und institutioneller Glaubwürdigkeitskrisen,
sozialer Unruhen und diskreditierter Intellektueller) verlassen, durch
maoistisch und gramscianisch inspirierte Marxisten der Generation Guha,
die dem heiligen Familienvater erstmal rigoros die alten eurozentrischen Zöpfe
abschnitten, indem sie den Kotau vor überholten Ideologemen wie eben der
„Asiatischen Produktionsweise“ oder der „Orientalischen Despotie“
grundsätzlich verweigerten – und so auch einem schematisch verblasenen
Marx vom schwergewordenen Kopf wieder auf die Füße materieller
Wirklichkeiten verhalfen.
Seither hat
sich von dort aus eine lebendige Diskussion und praxisorientierte
Weiterentwicklung marxistischer Ansätze herausgebildet, die zu deren
konzeptioneller Modernisierung, globaler Erweiterung und tieferer
Verankerung so erheblich beigetragen hat, dass sie auch nach dem
Zusammenbruch der Sowjetunion noch eine Rolle spielen – und nicht wie
vielfach erwartet vom Ende der Geschichte übermantelt wurden. Erhellende
Beispiele der reanimierten Power marxistischen Denkens bieten etwa Ashok
Rudras Vorlesungen „Some Problems of Marx’s Theory of History“ oder
dessen "Non Eurocentric Marxism and Indian Sopciety", explizit
entwickelt "to comprehend Indian history without the concept of Modes
of Production" oder Anne M. Baileys „Renewed Discussions on the Concept of the Asiatic
Mode of Production“ 1981[31]. So
wenig die deutsche Rezeption die historiografischen Innovationen der Subaltern
Studies dem tieferen Gehalt nach angemessen registrierte, so wenig
nahm auch der hiesige marxistische Mainstream deren konzeptionelle
Befruchtungen im weltweiten marxistischen Orientierungskontext wahr. Die
gewichtigsten herrschaftsgeschichtlichen Ideologeme wie etwa das aufgeklärte
Zivilisationsstufenschema, das AMP-Modell, die Orientaldespotie oder die
Dreiteilung indischer Geschichte in Hindu-Altertum, Moghul-Mittelalter und
Kolonial-Moderne (mit der überhaupt erst Geschichte in Indien begonnen hätte)
waren historisch erledigt und in ihrem eurozentrischen Kern bloßgestellt
– doch unter einer allenfalls oberflächlich renovierten Sprachfassade (Neger
oder Rasse oder auch Primitive sagt man heute nicht mehr so)
wirken sie historische Daten strukturierend und Bilder produzierend
durchaus weiter. Auch die marxistische Diskussion selbst hat in
Deutschland zum Eurozentrismusproblem über reflexhafte Apologetik und
ausweichende Philologismen hinaus[32] kaum Substanzielles beizutragen
vermocht.
Dies
bezeugt eindrucksvoll das immerhin als Bergungsaktion „ebenso wertvoller
wie gefährdeter Last“ marxistischer Begriffe und ihrer
Bedeutungsgeschichten angetretene „Historisch-Kritische Wörterbuch des
Marxismus“/HKWM, das zugleich „eurozentrische und unhistorische
Weltsichten aufzubrechen“ und Marx damit zu #06 reanimieren beansprucht. Die
hier relevanten Einträge müssen nämlich hauptsächlich importiert
werden, noch dazu von in allen Ehren ergrauten Eminenzen, die ihre
Hochzeit in den 70ern hatten, so L.Krader zur „Asiatischen
Produktionsweise“ und B.Wielenga zur „Indischen Frage“. Deren
jeweils mustergültig kontextualisierenden marxologischen Klassiker[33]
wurden bezeichnenderweise bis heute in keiner deutschsprachigen Übersetzung
herausgegeben, obwohl beider kritische Lesarten durchaus im
konventionell-kompatiblen Rahmen blieben. Die Lexikon-Artikel sind dann
derart zurückhaltend formuliert, dass bspw. Kraders Ergebnis, wonach das
AMP-Modell durch grundlegende Akzentverschiebungen heute veraltet ist und
bei Anwendung „fälschlich(e)“ Rückprojektionen zeitigt[34], glattweg
überlesen werden könnte. Ein Schelm, wer da an Rücksichten auf die bösen
Frischkost-Verdauungsprobleme deutscher DogmatikerInnen denkt. Noch
vorsichtiger aufbereitet findet sich „Eurozentrismus“ durch darin eher
Unbekannte wie den Ökonomen G.Willing, enttäuschend schwach und auf
altbackene Weise verblockt bereits G.Haucks „Entkolonisierung“[35].
Ein trauriges Beispiel kritikresistent weiterwesender Eurozentrik in ihrer
konstitutiven Nähe zum kolonialrassistischen Ressentiment liefert schließlich
F.Haugs sarrazinöser „Kopftuchstreit“, der noch dazu weder von Marx
noch wenigstens einer marxistischen Debattengeschichte her die sonst stets
geforderte thematische Relevanz einlösen kann[36].
D)
Demgegenüber erstrahlen freilich die in ihrer weltweiten Wirksamkeit,
ihrer schmerzhaften Diskussionskonsequenz, ihrer unbarmherzigen
Idole-Zerstörung, im trotzigen Mut zur Widersprüchlichkeit als weiteren
Ansporn zu noch präziseren Forschungen und in ihrer praxisorientierten
erkenntniskritischen Tiefenschärfe so überaus offen ausgetragenen
Versuche marxistischer Neuorientierung durch Indiens subalterne
HistorikerInnen umso heller, frischer und befruchtender. Das illustrieren
besonders eindrucksvoll auch noch die Strategiedebatten innerhalb der Subaltern
Studies Group, die im Folgenden anhand des vorgenannten
Sarkar-Chakrabarty-Pandey-Disputs genauer dargestellt werden.
[...] / #07
E) „Indische Geschichte vermittels marxscher Existenzbestimmungsformen zu bedenken“ führte also, sofern dort von unten aus der Perspektive subalternen Widerstands angegangen, zum AUFSPRENGEN herrschender Kolonialhistoriografie und regte
Cultural Studies sowie Postcolonial Theory maßgeblich mit an; zu spezifischen und genuin MARXISTISCHEN ERNEUERUNGSLEISTUNGEN über einen wundgelaufenen und diskreditierten geschichtsbildnerischen Totenkreisel hinaus; schließlich zu einer Erweiterung und Bereicherung solidarischer DENK- UND STREITKULTUR, die die eurozentrischen und rassistischen Zumutungen orthodoxer Marxismen ebenso auf einem höheren Reflektionsniveau zu verarbeiten unternahm[49] wie die scharfen gruppeninternen Widersprüche; aber all dies wird erst nach einem radikalen RÜCKSCHNITT DER ÜBERWUCHERUNGEN sichtbar, die die originalen
Subaltern Studies v.a. rezeptionell immer wieder überlagert haben, so dass sie zwischenzeitlich gar wie eine Art Unterabteilung der
Postcolonial Theory `rüberkamen[50]. Auch von hier aus wird „Geschichte“ als endlos beweglich und umkämpftes Terrain erkennbar, selbst wenn jahrhundertlange Dominanz gewöhnte Herrenreiter und Platzhirsche dieses Schlachtfelds in der falschen Sicherheit ihrer historisch gewachsenen Borniertheit diese unsicheren Grundlagen nicht mehr wahrnehmen. In dieser Sicht ist es nicht so verwunderlich, dass auf historiografischer Ebene eigentlich schon falsifizierte Modelle und Figuren in „der Geschichte“ dennoch weiterwesen. Die Schwierigkeiten und
Langlebigkeiten solcher obsoleten Ideologeme lassen sich, in Teilen wurde das bereits angedeutet, exemplarisch bei liebgewonnenen Modellen wie dem der Asiatischen Produktionsweise, der Zivilisationsstufenlehre oder auch der
Aryan Invasion Theory[51] und historischen Legitimationsfiguren wie dem Orientaldespoten[52], dem apathischen Bauern oder auch der bis zur Witwenverbrennung hilflosen Inderin[53] recht schnell aufzeigen. Wir wählen an dieser Stelle das Fallbeispiel „Communalism“ zur eingehenderen Betrachtung. Die wegweisenden Arbeiten hierzu hat seitens der
Subalterns Gyan Pandey geliefert, was einmal mehr die qualitative Innovationskraft ihres Ansatzes aufzeigt.
Etabliert hat den Kommunalismus als Erklärungsmodell für die soziale Verfasstheit und Funktionsweise Indiens deren britische Kolonialmacht, die daraus gleichzeitig ihre Herrschafts- und Erziehungsberechtigung sowie ein autokompatibles gefälliges Selbstbild im Sinne eines aufgeklärt-wohlwollenden Paternalismus ableitete. Der historische Vorgang lässt sich heute gut und genau rekonstruieren sowie eingrenzen auf
eine im Wesentlichen während des 19.Jahrhunderts in den
britisch-indischen Kolonialberichten und ihrer Weiterverarbeitung
gelaufenen Konstruktionsgeschichte – keinesfalls außer Acht lassend, dass es auch im vorkolonialen Indien
selbstredend deutlich unterscheidbare Communities (v.a. Muslime und Hindus, zu denen in weißer Sicht noch der ganze nichtchristliche Rest zählte) gab und manchmal ebenso Konflikte zwischen diesen.
[...]
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INHALT:
1.) Subaltern Studies – wie sie wurden, was sie sind und ob sie in Deutschland nochmal richtig ankommen
A) Beiträge der unteren Schichten als eigenständige Befreiungsgeschichten
B) Rezeption der Subaltern Studies in Deutschland
2.) zu den zentralen Inhalten und tieferen Bedeutungen der Subaltern Studies vorstoßend
A) Überwucherungen der originalen Subaltern Studies
B) Aufsprengen bisheriger Herrschaftshistoriografien
C) Eine genuin marxistische Erneuerungsleistung
D) Strategiedebatten innerhalb der Subaltern Studies Group
E) Schwierigkeiten und Langlebigkeiten obsoleter
herrschaftsgeschichtlicher Ideologeme
- am Beispiel KOMMUNALISMUS mit Pandey
F) Die Befreiung Europas aus selbstverschuldeter epistemischer Borniertheit
- am Beispiel RELIGIÖSES mit Chakrabarty
3.) Subaltern Studies als Befreiungsbewegung aus
epistemischer und sozio-ökonomischer Gewalt
A) Im Gegenlicht subalternen Selbstbewusstseins: Einhegungsversuche revolutionärer Bedrohung aus den Oberklassen
B) Wie Spivak der postkolonialen Karriere-Elite hinter die Ohren schreibt, dass die Antwort auf dem Land liegt
C) Go, Gandhi, GET YOUR GUN: Warum die maoistische Guerilla revolutionäre Marxistin ist
4.) Schluss und Ausblick auf die weitere Rezeption in Deutschland zwischen Che Guevara und Tengelmann |
[1] Edward Saids gut gerüsteter Angriff auf den etablierten 'Orientalismus' als
sogenannter Wissenschaft schlug 1978 bombengleich in der internationalen
englischsprachigen Gelehrtengemeinde ein und wurde in zahlreiche Sprachen
übersetzt, wenngleich nicht immer auch breit diskutiert. Eine deutsche
Fassung gab es seit Anfang der 80er, eine nennenswerte Rezeption erfolgte aber nicht
vor den 90er Jahren. Exemplarisch anzuführen wäre hier Jürgen
Osterhammel, der im Betrachtungsrahmen "Wissen als Macht" (so
einer der relevanten Aufsatz-Titel) bei
aller Kritik "Orientalism den Rang eines Schlüsseltextes"
zugesteht(S.166) und damit auch einen gewissen Niederschlag im deutschen
Wissensbetrieb belegt. IN: Eva-Maria Auch & Stig Förster,'Barbaren' und 'weiße Teufel', Paderborn 1997,
S.145-169;
[2] Unter Rezeption wird hier
die wissenschaftlich-intellektuelle Aufnahme verstanden, soweit sie sich
auch in Fachdiskussionen, Publikationen, Lehrplänen, Forschungsprojekten
oder Lehrstühlen niederschlägt, was natürlich wiederum
öffentlichkeitswirksam ausstrahlen sollte.
[3] Beispielsweise unterzieht
die deutsche Wikipedia in diesem Eintrag, zuletzt gecheckt am 27.12.2011*,
Sumit Sarkar einer peinlichen Geschlechtsumwandlung.
[4] Ders., Europa als
Provinz, Frankfurt 2010
[5] AMP steht für Asiatic Mode of
Production, also Europas gelehrte Erzählung von der "Asiatischen
Produktionsweise", die in marxistischer Tradition die spezifische
Zurückgebliebenheit Asiens auf der zivilisatorischen Stufenleiter
begründen soll. Auch in Indien übernahmen sogar die befreiungsbewegten
nationalen bis hin zu marxistischen Lesarten alle dieses historiografische
Schema und auch sonst die meisten Prämissen der weißen Herrensicht -
dazu mehr im Mittelteil.
[6] Spivak, Achtung:
Postkolonialismus! IN: Peter Weibel & Slavoj Zizek, Inklusion:Exklusion,
Wien 1997, S.117-130, zit. S.130;
[7] Die abwechslungsreiche
Biografie des 1922 im ländlichen Bengalen geborenen Guha weist ihn schon
früh als Marxisten und 1942-56 als engagierten Kommunisten aus, dessen
universitäre Karriere fast nebenher (und dies auf 3 Kontinenten) lief.
Das Interesse für die maoistischen Aufständischen und hierüber die
ungeschriebenen Geschichten subalternen Widerstands jenseits der
Metropolen wurde während eines Forschungsprojekts zu Gandhi geweckt.
Ähnlich wie vor Kurzem Arundhati Roy in ihrer wellenschlagenden Outlook-Reportage
"Walking with the Comrades", kommt hier ein sich bewaffnender
Gandhi zum Vorschein, der mit dem historischen Vorbild weitaus enger in
Verbindung steht, als es die verspulten und vernebelten Gandhi-Bilder
westlicher Provenienz vermuten ließen (weitere Links untenstehend: zu
Gandhi als Anti-Kulturimperialisten°, zu Roys Report auf deutsch°°).
Alle 3 geben sie auf ihre Weise ein Musterbeispiel des von Gramsci so
vehement auch für die Subalternen geforderten "Organischen
Intellektuellen". Wie die Subaltern Studies mit Gramsci
arbeiten, findet sich ausführlich entwickelt bei: Guha, Elementary
Aspects of Peasant Insurgency, Delhi 1983 oder auch spezifischer gerafft
bei: David Arnold, "Gramsci and Peasant Subalternity in India" IN Journal of Peasant Studies
11 (1984), S.155-177. Zur spaltenreichen politischen Entwicklungsgeschichte des indischen Marxismus in Form
seiner kommunistischen Parteien kurz und bündig: Stephen Sherlock, "Berlin, Moscow and Bombay - the Marxism that India inherited"
IN South Asia, Juni 1988, S.63-76; Zu ihrer kolonialen Geschichte umfassend: Sanjay Seth, Marxist Theory and Nationalist Politics, New
Delhi 1995;
[8] Der Aufsatz wurde erst
2008 in deutscher Übersetzung herausgebracht und erstmals auch
intelligent kontextualisert –
in der Wiener Es kommt darauf an-Reihe als Band 6 der "Texte
zur Theorie der politischen Praxis". Die österreichische
Rezeption ist mindestens zu Spivak der deutschen voraus,
interessanterweise wurde sie dort stark von KünstlerInnen und
Kunstbetrieb vorangetrieben (etwa Hito Steyerl oder Peter Weibel). Da diese wie auch Postcolonial und Subaltern
Studies zentral mit Entschlüsselung und Entzifferung,
Dekonstruktion und Rekonstruktion arbeiten, muss das nicht unbedingt
erstaunen. So enthielt der Begleitband zur Wiener Ausstellung
"Inklusion:Exklusion" 1997 (s.o.) schon die deutsche Fassung des dort gehaltenen Vortrags
"Achtung: Postkolonialismus!", in dem Spivak u.a. bereits ihren
Unmut darüber äußert, wie sich bspw. in Deutschland "akademischer
Narzissmus als Postkolonialismus validiert" (ebd., S.120); Wenn nicht im karriere-kreativen Zugriff narzisstischer
Umnutzung verunstaltet, dann werden Spivaks Texte oft auch zu Dokumenten
kognitiven Scheiterns im gipsköpfigen Anstrengungsversuch deutscher
Oberstübchen, die dann solcherlei Stilblüten treiben: "und verwundert musste ich dann feststellen wie verwirrt Teile des Aufsatzes erscheinen bzw. wie teilweise schwer die Message zu dekodieren ist, weil der Text sehr voraussetzungsvoll ist. Sprich: Man muss sich im Milieu akademischer Theoriebildung einigermaßen auskennen, um die Argumente nachzuvollziehen, was natürlich dem Anliegen des Aufsatzes eine pseudokritische Tendenz einverleibt, da das Verständnis wiederum hochgradig durch den Zugang zu Bildung geregelt ist und das ist ja ebenfalls ein Relais der Machteinschreibung, die diejenigen nicht passieren, welche im Fokus des Textes stehen:
Subalterne..."(zit. aus der zum erstgenannten Buch gehörigen
Amazon-Rezension eines Mad Circus**);
Besagter Text im Original: Gayatri
Spivak, Can the Subaltern speak? IN: Cary Nelson & Lawrence Grossberg,
Marxism and the Interpretation of Culture, Urbana 1988, S.271-313;
[9] Der Begrifd des
"Postkolonialen" ist ein multikomplexes Thema. Hier beschränke
ich mich auf die Bedeutung einer zeitlichen Position nach der politischen Unabhängigkeit
bei noch ausstehender geistiger Dekolonisierung, wie sie von ex-kolonialen
Intellektuellen zunehmend als Problem erkannt wurde. Von einer explizit
postkolonialen Bewegung oder auch Theorie ist hier nicht die Rede (vgl.
dazu als Standardwerk: : Padmini Mongia, Contemporary Postcolonial Theory, London 1997; einführend auch: Maria do Mar Castro Varela & Nikita Dhawan,
Postkoloniale Theorie, Bielefeld 2005; sh. ebenso Fußnote 24), vor Ende der 80er Jahre kann für die Subaltern Studies
in diesem Sinne davon auch gar nicht gesprochen werden, wahrscheinlich
noch nicht einmal für die nur retrospektiv so klar umrisssenen Postcolonials
selbst. Auch im Fall Said kam das entsprechende Branding rückwirkend und ursprünglich nicht einmal von ihm selbst. Sowohl dessen
kulturimperialismus-literaturkritischer Orientalismus-Ansatz als auch der historiografiekritische der Subaltern Studies waren zunächst ganz
praktische Beiträge zur vermissten vollständigen Dekolonisierung im
Zusammenhang mit konkreten Befreiungsbewegungen (historischen wie
gegenwärtigen, etwa in Palästina oder im Norden Indiens).
[10] Eine willkürliche (übersetzte) Titelauswahl mag die eminente Bandbreite illustrieren:
- Warenproduktion und ländliche
Verschuldung: die Zuckerrohrkultur im östlichen Uttar Pradesh (Amin, Bd.1)
- Rebellische Bergler: die Gudem-Rampa-Aufstände (Arnold, Bd.1)
- Bedingungen der Erkenntnis von Arbeiterklasse-Bedingungen:
Arbeitgeber, Regierung und die Jute-Arbeiter von Kalkutta (Chakrabarty,
Bd.2)
- Gandhi und die Kritik Bürgerlicher Gesellschaft (Chatterjee, Bd.3)
- Bedingungen und Natur subalterner Militanz: Bengalen von Swadeshi
zu Non-Cooperation (Sarkar, Bd.3)
- Das Kommando der Sprache und die Sprache des Kommandos (Cohn, Bd.4)
- Eine literarische Repräsentation der Subalternen: Mahasweta Devis Stanadayini
(Spivak, Bd.5)
- Die koloniale Konstruktion des Kommunalismus: Britische Texte zu
Benares im 19.Jahrhundert (Pandey, Bd.6)
- Kaste und subalternes Bewusstsein
(Chatterjee, Bd.6)
- Dominanz ohne Hegemonie und ihre Historiografie (Guha, Bd.6)
[11] Seine Kritik beginnt mit
einer eindrucksvollen Kontrastierung: den 14 Essays aus den beiden ersten
Bänden, die sämtlich von "underprivileged groups" handelten,
stehen aus den damals letzten Bänden 7 und 8 nurmehr 4 von insgesamt 12
gegenüber. Der größere Teil befasste sich inzwischen mit "critique
of Western-colonial power-knowledge, with non-Western 'community
consciousness' as its valorized alternative. Also is emerging a tendency
to define such communities principally in terms of religious
identities."(Sumit Sarkar, The Decline of the Subaltern in Subaltern
Studies, S.300, IN: Vinayak Chaturvedi, Mapping Subaltern Studies and
the Postcolonial, London 2000, S.300-323).
Andererseits haben wir es hier nicht unbedingt ausschließlich mit
einer postmodernistischen Beliebigkeitswende zu tun, sondern einem Gutteil
der so angegangenen Texte ist der Ursprung im kämpferisch
vorwärtsgerichteten Suchen nach einer Befreiung subalterner Geschichte/n
und Gegenwart/en sicher nicht abzusprechen.
Exemplarisch gilt das für Spivak, deren Bemühen um Freisetzung und
Erkenntnis der Subalternen insofern am Radikalsten ist, als sie den
privilegierten Zugang intellektueller (Für-)Sprecher kategorisch verwirft
und diese stattdessen erstmal zum Schweigen, Zuhören und Lernen
verdonnert. Dass ein oller Kämpe wie Sarkar da eher wenig Verständnis
für aufbringen mag, ist keine Überraschung. Aber auch anhand anderer Beispiele,
von denen eines im nächsten Abschnitt dargestellt wird, lässt sich
erkennen, dass dessen nicht völlig unberechtigte Kritik an überhandnehmenden
Verkopfungstendenzen doch etwas zu einseitig und voreilig gleich das Kind
mit dem Bad ausschüttet.
[12] Dietmar Rothermund,
Geschichte von unten: "Subaltern Studies" in Indien, IN Jahrbuch
für Geschichte Lateinamerikas 35 (1998), S.301-318; Zum spezifischen Deutschen
Osten kursorisch erstorientierend etwa: Wolfgang Wippermann, die deutschen und der Osten,
Darmstadt 2007;
[13] Sebastian Conrad &
Shalini Randeria (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus, Frankfurt 2002; Dipesh Chakrabartys
"Europa provinzialisieren" original als "Postcoloniality and the Artifice of
History" IN Representations 37 (winter 1992), S.1-26;
[14] Ganz köstlich, wie Wolf
Lepenies im Vorwort (S.7) doziert: "Nach dem Ende des Staatssozialismus wurden Strukturprobleme moderner
Industriegesellschaften, die lange Zeit durch die Konkurrenz der politischen Systeme verdeckt wurden, deutlich sichtbar“.
Auch dass "alle Geschichte nur Beziehungsgeschichte darstellt, wie Edward Said es in seiner Kritik des Orientalismus schon früh behauptet hatte“
ist eine kolossale Formulierung, die die andauernde deutsche
Rezeptionsschwäche nur sehr unbeholfen kaschieren kann. In Deutschland
wird eine oberflächliche Zurkenntnisnahme gerne noch mit begrifflicher
Durchdringung respektive finaler Aufarbeitung gleichgesetzt.
[15] Joachim Eibach & Günther
Lottes. Kompaß der Geschichtswissenschaft. Göttingen 2002; das Zitat
stammt von S.7, Motzkins Aufsatz findet sich auf S.371-381;
[16] So der Titel eines von
Hito Steyerl und Encarnación Gutiérrez Rodriguez herausgegebenen Sammelbandes, der 2003 im
stets umtriebigen und avantgardistischen Münsteraner Unrastverlag
erschien. Das Chakrabarty-Zitat findet sich (wie der gesamte Aufsatz) bereits IN: Conrad & Randeria, Frankfurt 2002, S.283 (283-312); Weitgehend
unbekannt ist ein 2006 in der "WerkstattGeschichte" 41 auf deutsch erschienener Text von Vinayak Chaturvedi, dem Herausgeber des Mapping-Sammelbands
von 2000 (Fußn.11) geblieben, der entlang der Verwendung des Klassenbegriffs die Entwicklungen
der Subaltern Studies von außen eher ideengeschichtlich und allzu pessimistisch nachzeichnet. In Teil III wird darauf zurückzukommen
sein. [17] Der
Eröffnungsartikel von Rodriguez im besagten Band grenzt, soweit er in die
"Geschichte" der 80er, 70er oder gar 60er zurückgeht, schon an
Desinformation. Der historische Abriss über "Repräsentation,
Subalternität und postkoloniale Kritik" auf S.22f enthält eine
Fülle von Irrtümern, Kurzschlüssen und Ungenausigkeiten: So wird Fanon
der Négritude-Bewegung eingegliedert, die nicht etwa in den 30ern,
sondern erst im Nachkriegs-Paris entstanden sei. Und Said wird hier von
2003 aus retrospektiv als Meilenstein des Postkolonialismus vereinnahmt,
obwohl dessen –übrigens mangelhaft
beschriebene– Orientalismus-Studie
1978 ebenso wie die Subaltern Studies 1982 selbstverständlich Teil
der globalen antiimperialistischen Widerstandsbewegungen ihrer Zeit waren
und sich entschieden nicht als postkoloniale Theorie sahen oder
präsentierten. Tatsächlich sieht an anderer Stelle ja auch Rodriguez
"die Bezeichnung 'Postkolonialismus' in den 1990er Jahren im
englischsprachigen Raum" erstmals auftauchen(S.17). [18] Ebd.,
Vorwort S.7; [19] So
Maria do Mar Castro Varela & Nikita Dhawan (Postkolonialität und die
Kunst der Selbstkritik, IN:
ebd., S. 270-290, zit. S.270) zum Abschluss des o.g. Sammelbands, womit
jedoch keinesfalls deren hervorragenden Erschließungsverdienste für die
ebenso umfassende wie differenzierende Einführung postkolonialer Theorie
nach Deutschland geschmälert werden. Nur liegt ihr innerer Bezugspunkt eben stärker auf
Theorie und Sprechweise eines postkolonialen Feminismus als auf der
widerständigen Praxis subalterner Historiografie. [20]
So Vathsala Aithal in einer der ganz seltenen wissenschaftlichen
Applikationen, hier aus der erziehungs- und sozialwissenschaftlichen
Fakultät mit Öko- und Gender-Fokus: Dies., Von den Subalternen lernen?
Frauen in Indien im Kampf um Wasser und soziale Transformation,
Königstein 2004, S.15;
[21] Hier sind natürlich
E.P.Thompsons Maßstäbe setztenden Studien "Die Entstehung der
englischen Arbeiterklasse" (Frankfurt 1987, orig.1963) und
"Wahrnehmungsformen und Protestverhalten" (Frankfurt 1979) zu
nennen, die sich erstmals gründlich den verstummten, ausgeblendeten
Geschichten der Unterschichten zuwendeten und die autonome
Aufstandsmotorik als Ausdruck handelnder Subjekte fokussierte. Eric
Hobsbawms auf Repräsentationskritik und Sozialrebellen gerichtete
Arbeiten wiesen im Groben in die selbe Rechtung, etwa mit "The
Invention of Tradition" (Cambridge 1983) oder
"Sozialrebellen" (Neuwied/Berlin 1962). [22]
Chakrabartys "kleine Geschichte der Subaltern Studies"
(enthalten im o.g. Band "Europa als Provinz") gibt nun auch in
deutscher Sprache verbindlich Aufschluss über die komplexen Entstehungs-
und Entwicklungszusammenhänge. Insbesondere werden hier die
"Subaltern Studies als Paradigmenwechsel, 1982-1987" in der
historiografischen Landschaft kenntlich (S.24-36) und somit auch für die
deutschsprachige Rezeption –wenigstens
potenziell– wieder vom Kopf auf die
Füße rückverortet. [23]
Ein Paradebeispiel liefert Spivaks Arbeit zum Selbstmord der jungen
Bhuvaneswari Bhaduris, die sich 1926 in Kolkata erhängte (d.i. "Can
the Subaltern Speak?", sh. oben). Die war Mitglied einer bewaffneten
Unabhängigkeitsgruppe und zuletzt mit einem Attentat betraut, das sie
aber nicht durchführen konnte. Den von ihr gewählten und auch
politisch-aktiv arrangierten Ausweg entzifferte Spivak als eine
"unausdrückliche, ad hoc erfolgende, subalterne Weise, den sozialen
Text des SATI-Selbstmordes ebenso umzuschreiben wie die hegemoniale
Darstellung der lodernen, kämpfenden, familialen Durga"(S.105). Es
ist Bhuvaneswari (und nicht etwa Foucault oder Deleuze), die Spivak zeigt,
"dass sogar dann, wenn die Subalterne eine Anstrengung bis zum Tode
unternimmt, um zu sprechen, dass sie sogar dann nicht fähig ist, sich
Gehör zu verschaffen"(S.127). Damit dekonstruierte Spivak auch alle
historisch tradierten 'Repräsentationen' (die hindu-religiöse, die
indisch-nationale und ebenso die kolonial-zivilisierte) als jeweils
variierend von oben vereinnahmende Lesarten. [24]
Und zwar in der Erstausgabe des wegweisenden "The Empire Writes
Back" von Ashcroft & Griffith & Tiffin 1989, denen dadurch,
dass sie konzeptionell bei ihrem literarisch-theoretischen Leisten
bleiben, auch darüberhinaus eine fundierte Überblicksdarstellung zum
Postkolonialismus gelingt. Das der 2.Edition angefügte 6.Kapitel
(Rethinking the postcolonial: postcolonialism in the 21st century,
S.193-237) stellt zusammen mit dem hervorragenden "Reader's
Guide" Entsthungs-, Rezeptions- und Weiterentwicklungsgeschichte der Postcolonial
Theory kurz, prägnant und historisch besser dar als das etwa
Castro-Varela & Dhawan in ihrer ansonsten verdienstvollen
"Einführung" (sh. oben) gelingt. Jene folgen hier unbedacht den
geschichtsvergessenen Vorstiegen und scheinen sich dabei grundlegend an
Moore-Gilbert (Postcolonial Theory, London 1997) zu orientieren, das o.g.
Standardwerk jedoch überhaupt nicht rezipiert zu haben.
[25]
Chakrabarty, kleine Geschichte der Subaltern Studies IN: Europa als
Provinz, Ffm 2010, S.39;
[26]
So qualifiziert von B.Wielenga im Artikel „Indische Frage“ IN:
Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus (HKWM), Hamburg 2004,
Bd.6/II, S.908; Im Korpus des orthodoxen Marxismus kommt dieser niederländische
Input fast wie Schmuggelgut ’rüber, sogar in seiner sehr behutsamen und
auch unvollständigen Form. So wird zwar anerkannt, dass die „Äußerungen
von Marx über die Unveränderlichkeit der indischen Gesellschaft sowie
seine Betrachtungen über die asiatische Produktionsweise ... indische
Marxisten zu unterschiedlichen Stellungnahmen“(S.914) geführt haben –
gerade die subalterne wird aber glatt unterschlagen. Etikettiert als
korrigierende geschichtswissenschaftliche Forschungsresultate finden
subalterne Beiträge gleichsam undercover wie durch einen Hintereingang
doch noch teilweise Erwähnung, hier über D.Hardimans Untersuchungen zu
lokalen Kleindamm-Bewässerungssystemen (IN: Arnold & Guha. Nature,
Culture, Imperialism. Delhi
1995, S.185-209). Diese darstellerischen Merkwürdigkeiten liegen wohl
weniger am niederländischen Altmeister als am deutschen Gesamtkonzept des
HKWM-Projekts.
[27]
Marx 1853 in seinen Indien-Artikeln für die New York Herald Tribune,
zit.n.[26], S.906;
[28]
dito, S.907;
„India
in Transition“ 1922), in den 40ern A.R.Desai (z.B. „Background of
Indian Nationalism“ 1948) oder S.A.Dange („India, from primitive
communism to slavery“ 1949);
[30]
Erste Durchbrüche sogar mit D.D.Kosambi (“Introduction to the Study of
Indie” 1956); expl. Für R.S.Sharma: “indian Feudalism” 1965, für
Irfan Habib: “Problems of Marxist Historical Analysis in India” 1973
(hrsg.v. S.A.Shah);
[31]
Rudra, beide Calcutta 1988, zit. S.IX; Bailey IN: Kahn & Llobera, The Anthropology of
Pre-Capitalist Societies, London 1981, S.89-107;
[32]
Siehe dazu neuerdings mit international anschlussfähiger Konstruktivität:
Kolja Lindner, Eurozentrismus bei Marx IN: Bonefeld & Heinrich,
Kapital und Kritik, Hamburg 2011, S.93-129; Diese im deutschen Sprachraum
ziemlich geglückte Premiere schließt mit der Feststellung: „Selbst
wenn Marx ‚zum Begreifen der wirklichen Conditions’ außereuropäischer
Gesellschaften ‚immense Zeit’ gebraucht hat, am Ende seines Lebens hat
er sich von den eurozentrischen ‚Eseln’ emanzipiert“. Soweit sind
jedenfalls Deutschlands aktuelle tonangebende MarxistInnen noch lange
nicht und es ist auch mindestens offen, ob das in diesem Leben noch mal
was wird. An einer philologisch-philosophischen Marxismus-Diskussion in
der abgehoben durchtheoretisierten, exegetisch-esoterischen Form, wie sie
nicht nur, aber ganz besonders in Deutschland zirkuliert, hat die
vorliegende historische Skizze zu 30 Jahren Subaltern Studies freilich
kein über die thematisch relevanten Berührungspunkte hinausgehendes
Interesse.
[33] Krader in HKWM, Bd.1, Sp.628-638; Wielenga in Bd. 6-II, Sp.903-918; (Die genannten Klassiker sind natürlich Wielengas "Marxist Views on
India", Madras 1976 und Kraders "Asiatic Mode of Production", Assen 1975)
[34] Krader, ebd., Sp.638;
[35] Willing in HKWM, Bd.2, Sp.1023-1032; Hauck in Bd.2, Sp.484-487;
[36] Haug in HKWM, Bd.7/II, Sp.1751-1765; Der Artikel durchlief die redaktionelle
Diskussion unverändert, welche während der alljährlichen Esslinger InkriT-Tagungen als "Werkstätten zu HKWM-Artikelentwürfen" ausgegeben
werden, um mit dem jeweiligen Autor "gemeinsam durch weiterführende Vorschläge, konkrete Hilfe, Ermutigung und Kritik einen guten Artikel
voran zu bringen". Das stimmt so natürlich nicht, mindestens wenn die Autoren Haug heißen. Das Zitat ist dem Schreiben "Einladung zur XVI.
Internationalen InkriT-Tagung (7.-10.6.2012)" entnommen.
[...] [49] Der Langmut indischer Historiker/innen gegenüber den eurozentrischen und
kolonial-rassistischen Prämissen „ihrer“ Zunft und die unerschütterliche Ruhe, mit der geduldig weiter argumentiert und gearbeitet wurde, ist
bemerkenswert. Analog gilt dies im engeren Kreis für die Subaltern-Historiker/innen, die seitens der etablierten Geschichtselite auch
Indiens oft heftige Anwürfe erfuhren. Repräsentativ dafür kann Barun De stehen, der in seinem Eröffnungsvortrag als Generalpräsident des
49.Jahrestreffens des Indian Historical Congress’/IHC im Nov.1988 jene –nur indirekt, quasi mit der Kneifzange– als „Post-Graduate
Special Paper teachers“(S.5) angriff, deren Effekt v.a. sei, dass „historical explanation overgeneralises, overtheorises, becomes too
involved in explicating neologisms like ‚subalternity’“(S.7). Vordergründig trieb auch De die Bestürzung über den Relevanzverlust der
Geschichtswissenschaften („boring“) um, der Seitenhieb auf die Subalterns gründete allerdings auf deren so empfundene
Vernichtungskampagne gegen alles „what they believe to be orthodox marxist etatisme“(S.5). Besagter Relevanzverlust wurde im Übrigen
ebenfalls sehr praxisorientiert aufgefasst, wenn auch ‚von oben’ (im Sinn gelehrter Autorität). Angesichts fortschreitender
„Bollywoodisierung“ und Rechtspopulisierung ‚der Geschichte’ ging es dem langweilig gewordenen historischen Establishment um die
Rückgewinnung bildungspolitischer Richtlinienkompetenz etwa in Lehrbüchern und Curricula. Allein die Institution des IHC im Allgemeinen
sowie diese spezielle Thematisierung illustrieren Lebendigkeit und Umkämpftheit im indischen Geschichtsbetrieb. Barun De schließt in der
2.Hälfte seines Vortrags eine exemplarische Zusammenschau „Vicissitudes in the Historical Interpretation of the 18th century“ an, die explizit
dem „purpose of historigraphical deconstruction folgt und am Beispiel der „Transition“-Problematik (d.i. die schwierige Frage nach der
tatsächlichen Beschaffenheit des Übergangs vom indo-muslimischen Mogulreich zur britischen Kolonialherrschaft jenseits ihrer imperialistischen
Geschichtslesarten, was nur von jenen nicht als spannend und kompliziert wahrgenommen wird, welche in ihrer eurozentrischen Borniertheit alle
Antworten bereits zu haben meinen) den historischen Werde- und Wandelgang im ursprünglich gesetzten „herrenvolk“-Geschichtsbild(S.14) gelungen
nachzeichnet. Barun De, Problems of the Study of Indian History, IN: T.K.Venkatasubramanian (Hg.), Proceedings of the IHC, 49th Session in
Dharwad 1988, Delhi 1989, S.1-56;
[50] „Subaltern Studies as Postcolonial Theory“ hieß denn auch ein programmatischer Essay von Gyan Prakash in der
American Historical Review vom Dez.1994 (S.1475-1490), mit dem das eher leichtgewichtige Mitglied seinen gleichsam bartschistisch jegliche Widerstandspraxis auflösenden Ansatz passend betitelte. Eine lesenswerte Einordnung dessen (und auch der
Subaltern Studies insgesamt in den größeren Kontext wissens-, bildungs- und allgemeinpolitischer Relevanz im indischen Geschichtsbetrieb, worin deren Historiker/innen ja keineswegs hegemonial waren) findet sich im Kapitel 4 „Subalterns in the Academy“ IN: Vinay Lal, The History of History, New Delhi 2003, (S.186-230), wenngleich die Kritik an den
Subaltern Studies aufgrund allzu different geeichter Maßstäbe gelegentlich verzogen wird (dass z.B. Foucault oder Gramsci nicht buchstabengenau importiert, sondern kreativ und nutzenorientiert anverwandelt wurden, kann dazu ebenso wenig ein Kritikpunkt sein wie der langbärtige läppische Einwand, dass die subalternen Objekte kein Wort ihrer Historikerinnen verstehen würden). Prakashs Ansatz ist hingegen recht genau getroffen, nur scheint er als „something of a spokesman for the subaltern historians“ seit den frühen 1990ern –auch mit der Einschränkung „in the West“– doch etwas überschätzt (S.219). Außer mit einem Aufsatz in Bd.9 der Subaltern Studies sowie einer Drittelherausgeberschaft für Bd.10 ist er jedenfalls in diesem Rahmen nicht aufgefallen.
[51] Vgl. auch: J.Krämer, ORIENTALISMUS MACHT GESCHICHTE, Zum Beispiel die Entstehung des Orientaldespoten IN: Iman Attia, Orient- und Islambilder, Münster 2007, S.111-136;
[52] Ders., Pax Britannica in
Indien, Legende und Wirklichkeit kolonialer Penetration, Norderstedt
2004
[53] Mein eigener kleiner Orientalism.BookStore
gibt einen ersten Überblick zur Literatur...Zum Schluss des Textes:
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