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006 - Statement: Was will orientalismus.net und wozu das alles?
orientalismus.net ist zunächst einmal Teil eines größeren Projekts,
nämlich von orientalismus.info, das sich mit den Mitteln kritischer
Geschichtswissenschaft der Aufklärung über eurozentrische Zerrbildnisse und
Projektionen auf die inferiorisierten "Anderen" in einem auf der
superioren Seite konstitutiven, aber vernebelten selbstlegitmatorischen
Funktionszusammenhang widmet, in dem an sich klare Gewalt-, Ausbeutungs- und
Unterdrückungsverhältnisse schöngeschrieben werden sollen. Es geht hier gegen die normative Kraft des nach wie vor gültigen historiografischen
Dekrets, wonach "Europa im historischen Wissen als stillschweigender Maßstab
fungiert"[1] und beispielsweise
indische, chinesische, kenianische oder andere subalterne Geschichten -und also Gegenwarten und Zukünfte- in
minderwertige Variationen dieser einen Meistererzählung verwandelt. Eurozentrisch-historiografische Legenden
auf diesem Weg zu dekonstruieren, kann somit hoffentlich einen Beitrag zu Dipesh Chakrabartys Projekt "Europa
provinzialisieren" leisten:
"Geschichten, die darauf zielen, ein hyperreales Europa aus dem Zentrum der historischen Einbildungskraft zu
verdrängen, müssen unermüdlich den Finger auf diesen Zusammenhang zwischen Gewalt und [zivilisatorischem]
Idealismus legen[...] Die Aufgabe wird darin bestehen, sich mit Ideen auseinanderzusetzen, die den modernen
Staat [...]legitimieren, um so diejenigen Kategorien, deren globale Gültigkeit nicht mehr für
selbstverständlich genommen werden kann, erneut zum Gegenstand der politischen Philosophie zu machen - genau
wie man auf einem indischen Basar verdächtige Münzen ihren Besitzern
zurückgibt."[1]
Im genannten Projekt übernimmt orientalismus.net den eher politisch-praktischen Part. Hier werden ausführlich,
wissenschaftlich korrekt, aber nicht ohne klaren Positionsbezug, adäquate Schärfe und gelegentliche Polemik
entsprechende Texte geboten und solche Websites vernetzt, die ihrerseits zum übergeordneten Groß-Projekt
"Europa provinzialisieren" beitragen wollen, indem sie sich auf die eine oder andere Weise kritisch mit dem Problem
eurozentrischer Fremdwahrnehmung, deren funktionaler Verquickung mit weisser Herrschaftslegitimation in der Welt und
dessen inwendiger Nähe zu Rassismus, Chauvinismus und Imperialismus befassen. Wir haben es hier also nicht mit nur
akademischen, sondern auch mit politischen Texten zu tun, mit Essays, Rezensionen und Streitschriften. Ohnehin wäre
zu sagen, dass wissenschaftliche Arbeit ohne kritischen Gebrauch und praktische Anwendung zum allgemeinen
emanzipatorischen Nutzen an dieser (und von mir aus jeder anderen) Stelle uninteressant ist. In Anlehnung
an Gramscis Figur des "organischen Intellektuellen" lässt sich vielleicht formulieren, dass
im orientalismus.net das Organische am Intellektuellen hervortritt.
Mit meiner Arbeit "Pax Britannica in Indien: Legende und Wirklichkeit kolonialer
Penetration"[2] habe ich
am Beispiel der britischen Version von Pax Occidentalis unter anderem demonstriert, dass einige dieser
Münzen eurozentrischer Herrschaftslegitimation heute auf dem historischen Basar nicht mehr kreditwürdig,
d.h. glaubhaft sind. Um Europa zu provinzialisieren, d.h. in der Intention Chakrabartys dessen historiografische
Hegemonie aus dem Zentrum der Maßstabssetzung zu verdrängen, kommt es aber über die Rückgabe der falschen
Münzen hinaus darauf an, die Beteiligten mit der Forderung nach Konsequenzen zur Rede und womöglich die
Gültigkeit ihrer Währung insgesamt in Frage zu stellen. Eine Pax Britannica hat es z.B. in Indien real zu
keinem Zeitpunkt gegeben, wohl aber als imperialistische Herrschaftslegitimation und Prototyp der modernen
Dichotomisierung des "Wir" gegen "die Anderen" als Basis jener Moral von double standards, die letzteren
bis heute Gleichwertigkeit und die formal damit verbundenen Rechte essenziell abspricht. Auch im Rahmen
einer Pax Americana oder Pax Democratica sind gegenwärtig und zukünftig die zivilisatorischen
Anschlussversprechen der privilegierten Abendländer nicht echter geworden.
Die Zurückweisung der falschen Münzen weißer Superiorität in der Welt mag mit deren politisch-philosophischen
Rechtfertigungsideen beginnen, weil die organische Verbundenheit ihres zivilisatorischen Idealismus mit
Gewalt, Elend und Ausbeutung auf dem wissenschaftlichen und intellektuellen Parkett aktuell am
wirkungsvollsten ins Licht gezerrt werden kann. Sie wird aber kaum darauf beschränkt bleiben dürfen.
"Europa provinzialisieren" ist eben auch ein politisches und alltagspraktisches Projekt.
[1] [2] Dipesh Chakrabartys Projekt "Europa provinzialisieren" lautete
ursprünglich: Postcoloniality and the Artifice of History, in: Representaions 37 (winter 1992), S.1-26 ||
10 Jahre später auf deutsch: Chakrabarty. Europa provinzialisieren, in: Sebastian Conrad. Jenseits des
Eurozentrismus, Frankfurt 2002, S.283-312 (der viel zu voreilig betitelte Sammelband reflektiert immerhin
erstmals eine etwas breitere Rezeption international längst anerkannter repräsentationskritischer Ansätze
auch in Deutschland).
[3] Jürgen Krämer. Pax Britannica in Indien. Hagen 2002. Internet-Version