[Dieser Text war
ursprünglich ein Vortrag auf einem Seminar der Außereuropäischen
Geschichte zum Thema "`Ein Platz an der Sonne´, deutsche
Kolonialherrschaft in der Südsee" (Leipzig 2004). Entsprechende
Besonderheiten und Spezialbezüge bitte ich ggf. großzügig zu überlesen.] Dieses Referat ist eine Buchvorstellung, nämlich besagter
Kolonialphantasien (Berlin 1999), und zugleich einiges mehr als eine bloße Buchvorstellung. Aus dem Titel wird schon deutlich: es handelt sich um
Vor- und Hintergrundgeschichte zum Seminarthema, erstere als klare chronologische
Erweiterung über die kurze Spanne eines realexistierenden deutschen Kolonialismus i.e.S. hinaus; letzteres als eine inhaltliche Vertiefung, die eine
allgemeine theoretische Grundlage mittels Ideologiekritik bzw. Diskursanalyse anbietet. Damit läßt sich auch dem Seminar-Reader (oder sonst jeder gängigen Publikation zum Thema) interpretatorisch zu Leibe rücken als
Repräsentativ-Beispiel -deutscher- Kolonialgeschichtsschreibung und ihrer Defizite. Diese Buchvorstellung wird also auch ein kurzer Ausritt in die historische
Forschungslandschaft und dient damit der kritischen und selbstkritischen Orientierung praktizierter Geschichtswissenschaft im akademischen Betrieb.
Damit können wir am "Leitfaden" für jegliches Geschichtsstudium anknüpfen, wonach -so Lutz Niethammer- "Geschichtswissenschaft, die method. Erforschung der Vergangenheit, der Geschichte des Menschen, auf der Grundlage der kritisch gesicherten Überlieferung" sei:
"Ideologiekritisch in ihrem method. Ansatz, sucht sie die Wurzeln der Gegenwart freizulegen und deren geschichtl. Struktur erkennbar zu machen." Zu den handwerklichen Voraussetzungen solcher Geschichtswissenschaft gehört immer auch die kritische Reflexion der eigenen Arbeitsvoraussetzungen, Erkenntnisinteressen und Wahrnehmungsparadigmen. Das wird im besagten
Leitfaden zum Geschichtsstudium zwar noch nicht expliziert, dafür bringt Niethammer aber ein schönes praktisches Beispiel für "solche verschwiegenen und unrealistischen Voraussetzungen" aus seiner eigenen Studienzeit, "als zwar allenthalben so getan wurde, als sei das
Kaiserrasseln ein ganz albernes und triviales Mißverständnis von Geschichte, aber unsere Dozenten unterrichteten uns weithin so."[1] Hier zeigt sich, daß das berüchtigte Kaiserrasseln theoretisch und offiziell zwar als erledigt gilt. Wenn wir aber die Praxis wissenschaftlicher oder auch populärhistorischer Produktionen in den Blick nehmen, dann rasseln im breiten Spektrum von Fernseh-Geschichte
à la Guido Knopp bis zum
Studienbrief-Angebot unseres eigenen Lehrgebiets doch noch sehr oft alte und neue Kaiser im Fokus der Historiografie. Das gilt auch z.B. für das Stereotyp vom Orientaldespoten oder vom naiven, feierfreudigen, pompaffinen
Südsee-Naturkind. Dieses letztere historiografische Konstrukt aus kolonialer Sicht wird exemplarisch auch von klaren Gegnern des deutschen Südseekolonialismus reproduziert, wie etwa von Christmann, Hempenstall und Ballendorf, die zwar Benennungen der Indigenen als "Yankeeaffen" denunzieren; die von Pomp und Gloria beeindruckbaren, feierlustigen
halbkulturellen Naturkinder (also guter väterlicher Führung und moralischer Erziehung bedürftig) bleiben sie aber trotzdem.[2]
Das war einleitend die Demonstration oder wenigstens Andeutung der Potenz
ideologiekritisch/diskursanalytischen Vorgehens, wobei Ideologiekritik eher die
inhaltliche und Diskursanalyse eher die formale Seite des gleichen Zusammenhangs
zum Ausgangspunkt hat. Es wird im Folgenden schnell deutlich zu sehen sein, daß
und wie in diesem Zusammenhang von Herrschaft und Legitimation
Fremdwahrnehmungsmuster konstruiert wurden, die -theoretisch totgesagt- bis
heute wirkmächtig sind.
Zantop, Kolonialphantasien:
- Materialbasis: Kolonialphantasien in kulturbildenden Texten
Susanne M.
Zantop beschäftigt sich genau mit diesen grundlegenden und unterschwelligen
Kolonialphantasien, ihren Inhalten, ihrer Genese, ihren Modifikationen unter
veränderten Bedingungen, ihren Funktionen und ihren Auswirkungen. Sie vergräbt
sich nicht in kolonialadministrative Aktenberge und auch nicht in die gedruckt
überlieferten Kolonialdebatten und Meinungsäußerungen, um einen Begriff vom
deutschen Kolonialismus zu erarbeiten. Sondern sie richtet ihr Augenmerk auf
konsensuelle Kolonialphantasien, wie sie sich im vorkolonialen Jahrhundert in
literarischen Texten aller Art als komplette Geschichten und als mentale
Strukturen manifestierten, die nicht nur andere Diskursformen beeinflußten,
sondern in der kolonialen Phase auch real Politik prägten und über das
historische Ende hinaus kulturell wirkmächtig geblieben sind. Zantop zieht eine
Unmenge von Novellen, Romanen, Gedichten, Theaterstücken, wissenschaftlichen
Aufsätzen, philosophischen und politischen Traktaten zur Analyse heran, denen
eine ziemliche Verbreitung und Popularität gemeinsam war, etwa: Campes
Eindeutschung von Robinson Crusoe ("Robinson der Jüngere, ein
Lesebuch für Kinder" 1779/80), Meiners rassistische Menschheitsgeschichten
der 1790er Jahre, Kotzebues Theaterschlager aus Marmontels Inka oder die
endlose Reihe von Kolumbus-Variationen aller Art. Die Liste der
ausgewerteten Quellen reicht über 24 Seiten.
- Interpretation des Materials und seines Diskurs'
Tatsächlich
bezieht sich Zantop vornehmlich auf
Texte zu
Südamerika, was aber der Verallgemeinerbarkeit ihrer Resultate keinen Abbruch
tut, sowenig wie etwa Saids Konzentration auf den "Nahen Osten" die
Universalität seines Orientalismus-Konzepts schmälert. Die "Neue
Welt" war nicht nur das erste koloniale Liebesobjekt der Deutschen (mit den
Welsern in Venezuela 1528-55 auch ganz real), "sondern blieb auch kolonialer Wunsch-Raum, als das Deutsche Reich aktive Kolonialexpansion in Afrika betrieb. Die anhaltende Faszination mit allem Südamerikanischen äußerte sich in zahllosen Reisesammlungen, in Wiederauflagen und Übersetzungen von Tatsachenberichten und Fiktionen über Südamerika, in Columbus-Oden, Conquista-Schauspielen, Opern, Singspielen, Balletts und Romanen, die im 18., 19. und sogar 20.Jahrhundert vom deutschen Lesepublikum verschlungen wurden."[3]
- Orientalismus, "Okzidentalismus"
Aufgrund dieser ursprünglichen West-Orientierung wird Zantop verleitet zur unglücklichen Begriffsbildung eines "deutschen Okzidentalismus" analog zu Saids Orientalismus. Das verwirrt eher, weil der schon in anderer Bedeutung als Kritik an Said (im Sinn von "orientalism in reverse") etabliert ist und weil auch die tiefere strukturelle und inhaltliche Analogie im Schein des oberflächlichen Gegensatzes untergeht (besser wäre z.B. "westbound orientalism" gewesen). In wirklichen Gegensatz zu Said begibt sich Zantop, indem sie gegen dessen relativ mildes Urteil, wonach "das Fehlen von Kolonialbesitz den deutschen Kolonialdiskurs abstrakter, wissenschaftlicher und deshalb weniger machtorientiert" gestaltet hätte, einwendet, "daß gerade das Fehlen eigenen Kolonialbesitzes den Wunsch nach territorialer Expansion verstärkte und das Recht auf Kolonien im Denken vieler Deutscher zur Besessenheit werden ließ. Da sich der Kolonialdiskurs rein im Abstrakten, d.h. ohne Anfechtung durch kolonisierte Bevölkerungen und ohne konkrete Testsituationen, entwickeln konnte, formierte er sich weniger als `geistige Machtkontrolle´ oder `intellektuelle Autorität´ über weit entfernt liegende Territorien, sondern als mythische Klammer, die die eigene kollektive Vorstellungswelt zusammenhielt."[4]
- Eroberung, Männlichkeit, Rasse, Vaterland
Die Kolonialphantasien, wie sie sich auf der Südamerika-Projektionsfläche in global gültiger Form herausgebildet haben, sind von 2 zentralen Motiven geprägt, deren Echo wir auch in Texten des Seminar-Readers wiederfinden: Sexualität und Rasse, Männlichkeit und Master Race, Vaterschaft und Führerschaft. In den kolonialen Lieblingsmetaphern (Eindringen, Erobern, Hingabe, Unterwerfung, Heirat, Zeugung, jungfräuliche Erde unter den Pflug nehmen, Vaterland und Tochterkolonie) zeigt sich der fundamentale Gleichschritt beider Motive. Wie die bei Zantop "untersuchten deutschen Kolonialphantasien aus dem 18.Jahrhundert deutlich machen, entstand der moderne,
biologisch fundierte Rasse-Begriff zur gleichen Zeit wie die moderne Geschlechtsrollenverteilung. Schon im ausgehenden 18.Jahrhundert und nicht erst im 19.Jahrhundert wurde `Rasse´ anhand von unveränderlichen physiologischen Eigenschaften definiert, denen ebenfalls unveränderliche intellektuelle und moralische Eigenschaften entsprächen; zur selben Zeit wurde das gesellschaftliche Gefälle zwischen Männern und Frauen aus der weiblichen und männlichen `Natur´ heraus begründet. Diese Konstruktion eines modernen Rasse-Geschlechts-Modells zwischenmenschlicher Beziehungen fand in einem ausdrücklich `kolonialen´ Kontext statt: erst durch den Rückgriff auf kolonisierte Völker, auf `anziehende´ oder `abstoßende´ Menschen anderer Kultur und Hautfarbe, die sie begehrten oder von ihrem angestammten Platz vertrieben, konnten weiße europäische Männer sich als `der Europäer´, `der Deutsche´ oder `der Engländer´ behaupten, der biologisch zur körperlichen und kulturellen Vorherrschaft prädestiniert sei."[5]
- Periodisierung
Zantop unterscheidet dabei 5 vorkoloniale Perioden, deren realhistorischer Hintergrund jeweils spezifisch auf die Kolonialphantasien abfärbte: das assimilatorische koloniale Erziehungsmodell der Frühaufklärung, in dem die sexuelle Anziehung pädagogisch-zivilisatorisch sublimiert wurde; ab ca. 1770 sich verdichtend die "Wunschvorstellung von der `Liebe auf den ersten Blick´ und der freiwilligen Hingabe indianischer `Prinzessinnen´ an kulturell höherstehende und daher begehrenswerte europäische Eroberer"; ab 1789 ist die "Phantasie legitimer Bindungen zwischen Kolonialherren und Kolonialvölkern, die im Bild der `Hochzeit´ zwischen Europa und Lateinamerika ihren Ausdruck findet, wiederum direkt verbunden mit Zeiten drohender Dekolonisierung, als `Sklaven´-Aufstände die Autorität des großen weißen Vaters auf beiden Kontinenten zu unterminieren suchten"; ab 1804, nachdem erste Befreiungsversuche gelangen, etabliert sich die "Phantasie einer `Scheidung von Tisch und Bett´ der (ungleichen) Partner"; ab den 1820er Jahren habe wir "eine Periode des erneuten Interesses an `Entdeckung´ und `Erforschung´ jungfräulicher Gebiete."[6]
Für das Thema des Seminars ist die zeitlich anschließende Periode relevant, die die "Rückkehr von Raub- und Vergewaltigungsphantasien [...] im Zusammenhang mit aggressiven neokolonialistischen und imperialistischen Zielen" gewärtigte, die sich "allerdings nur
mobilisieren ließen, weil Vergewaltigung von Anfang an in den Kolonialphantasien im Hegelschen Sinne `aufgehoben´ war."[7] Indem Zantop den gütigen Paternalismus der offiziellen Kolonialdebatten beiseite läßt und sich auch nicht im Dickicht kurzsichtiger Aktenhuberei verliert, sondern "die Geschichte von Eroberung, Abenteuer und Herrschaft [in] Populär-, Kinder- und Trivialliteratur" als kulturbildend ernstnimmt,
kommt sie zur Erkenntnis, "daß rassistische, fremdenfeindliche und frauenfeindliche Denkmuster nicht plötzlich und in einem Vakuum entstanden, sondern fest verankert waren in der Phantasie `präkolonialer´ Deutscher."[8]
Verortung in der Forschungslandschaft:
- Saidianische Methoden, Abgrenzungen zu Said
Der diskursanalytische Zugriff Zantops auf unter Gelehrten wie in der Gesamtgesellschaft
kulturbildende Texte ist meines Wissens die erste umfassende Applikation Saidianischer Methoden auf und in Deutschland. Wo Zantop sich von Said, dessen
Orientalismus sie ja als "bahnbrechend"
würdigt, abzusetzen versucht, scheint sie ihn eher kreativ zu ergänzen. Wir hatten das bereits am Beispiel ihres
`Okzidentalismus´. Ähnliches gilt auch für ihre Kritik, bei Said
tauchten die Kategorien "Sexualität und Geschlecht" nur am Rande auf. Ihr Ansatz, daß Sexualität eine Schlüsselrolle in Kolonialphantasien spielte, daß sich Rasse- und Sexualstereotypen in der kolonialistischen Imagination überlappen und daß erst ihre Kombination die für kolonialistisches Denken so typische Spannung zwischen Anziehung und Ablehnung hervorbringt - ist an Said problemlos anschließbar und wurde von diesem selbst prinzipiell auch erwünscht.
- Diaspora: außereuropäische Geschichte in Deutschland
Sei's drum:
lassen wir es als Kompliment gelten, daß Zantop 1999 die erste breitseitige Saidianerin in
Deutschland war, wo Fragen der kolonialen oder okzidentalen Imagination bis dato nicht Gegenstand der Forschung waren. Auch heute noch, das entnehmen wir z.B. dem
Einführungskurs zur europäischen Expansion (der FernUni Hagen) schon auf den ersten Seiten, findet außereuropäische Geschichtswissenschaft in den angloamerikanischen Ländern, in Frankreich, in Holland statt - nicht aber in Deutschland. Der Kurs datiert aus 1992. Saids
Orientalism erschien original 1978 und erst in den 80er Jahren auf deutsch (und blieb hier doch weitgehend unrezipiert). Zantops "Kolonialphantasien" erschienen übrigens auch zuerst in den USA (1997). Der repräsentationskritische Ansatz, im internationalen historischen Betrieb inzwischen gängige Münze, bleibt hierzulande weiterhin marginalisiert. Er stellt zu sehr die eigenen Denk-Prämissen in Frage und deren Kontamination mit Rechtfertigung und Verhüllung von Herrschaft, Gewalt und Ausbeutung. Stattdessen dominieren immer noch "kontaktgeschichtliche" Lesarten, die das reale Machtgefälle kulturbegegnerisch zu nivellieren trachten.
- "Kontaktgeschichte" versus Ideologiekritik
H.J.Hiery ist so einer, der ganz in der Tradition von Urs Bitterlis Relativierung[9] koloniale Herrschaftspraxis auf ein Kommunikationsproblem herunterkocht und dagegen die pädagogischen Bemühungen insbesondere der deutschen Kolonialmacht hervorhebt. Auf Seite 206 unten haben wir sogar einen Durchbruch von Parteinahme für die deutsche Kolonialverwaltung - noch dazu mit dem doppelt falschen Argument, es habe bis kurz vor "Ausbruch" des Weltkriegs überhaupt keine deutsche Sprachenpolitik gegeben. Das Kapitel
"Europäisches und pazifisches Wissen" ist ein Musterbeispiel der althergebrachten essentialisierenden Optik des überlegenen Abendländers nach der Formel `intellektueller Mensch versus emotionaler Mensch´.
Wie althergebracht, vermittelt ein affirmativ beigedruckter Zitatkasten aus Thurnwalds
Ethno-psychologischen Studien zu Südseevölkern (Leipzig 1913): Hiery,
immerhin Herausgeber des Handbuchs Deutsche Südsee, verschreibt sich damit
offensichtlich der Wiederaufbereitung derselben alten Kolonial- und Rassephantasien.[10]
- Koloniale Situation: Kulturbegegnung oder Gewaltverhältnis?
In dem Zusammenhang ist auch auf die Entwertung des Begriffs der "kolonialen Situation" hinzuweisen, wenn er -wie bei Eckert- nur noch ein semantisches Bauteil darstellt.[11] Von seinem `Erfinder´ Balandier wurde er 1952 dagegen gerade als ein Kolonisator wie Kolonisierten umfassendes pathologisch-deformatives System konzipiert, ohne jedoch die innewohnende Ungleichheitsprämisse kulturbegegnerisch auszublenden. Ein "Charakterzug von Unechtheit, beruhend auf der Heuchelei, die mit humanen Prinzipien eine einfache und saubere Ausbeutung rechtfertigte," gehörte auf der kolonisierenden Seite konstitutiv ebenso dazu wie die Selbstverständlichkeit von Zwangsmitteln, ein Helden- und Vorbildbewußtsein, latentes Herrenmenschentum und innere
Geschlossenheit.[12]
- Ethnologische und sozialwissenschaftliche Infusionen mit Verspätung
Von ethnologischer und sozialwissenschaftlicher Seite kommt neuerdings Support in Richtung einer Auflösung des eurozentrischen Paradigmas, etwa durch innovative "african studies" wie
im
Programm des LIT-Verlags oder durch Conrad und Randeria, die unter dem vielleicht etwas vorlauten Titel "Jenseits des Eurozentrismus" postkoloniale Repräsentationskritik 2002 endlich auch in Deutschland etwas breiter
einführen.[13] Allerdings kommt im selben Jahr im sicher nicht altbackenen Verlag Vandenhoek & Ruprecht noch ein "Kompaß der Geschichtswissenschaften" heraus, der der "Orientierung in einer internationalen Forschungslandschaft" mit zunehmender "Tendenz zur Globalisierung" dienen soll - und einen Said, Guha, Cohn, Wink, Fanon nicht einmal im Register führt, ebensowenig wie z.B. Osterhammel oder
Albertini.[14] Kaum schlagen sich dennoch erste postcolonial standards im deutschen Wissenschaftsbetrieb nieder, erheben sich auch schon wieder die Blockierer, die einen "unreflektierten Anti-Eurozentrismus" am Werk sehen (so Berman
2003).[15] Vor solchen Verflachungen und Vernebelungen gilt es auch Zantop als
emanzipativ und fortschrittlich in Schutz zu nehmen.
- "Anti-Eurozentrismus" oder "the colonizer's model of the world"?
Die anthropologische Blutauffrischung einer veralteten Geschichtswissenschaft liegt dabei im internationalen Maßstab sogar noch länger zurück als Saids Orientalismuskritik. Schon 1970 hat B.S.Cohn sich als "Anthropologist among Historians" profiliert (Furore machte 1983 sein
Representing Authotity in Victorian India). Auch J.M.Blaut wäre da zu nennen, der
The Colonizers Model of the World 1993 erschöpfend auseinandergenommen
hat[16] - und das ist nur ein geringer Teil der geläufigen Publikationen. Offenbar soll
eine moderne außereuropäische Geschichtswissenschaft in Deutschland ähnlich verspätet starten wie seinerzeit der reale deutsche Kolonialismus.
Es hat sogar nicht selten den Anschein, als ob sich hiesige "Kolonial-"Geschichte
in ihrer strukturellen Unfähigkeit, z.B. Eurozentrismus, Orientalismus oder die koloniale Situation als Problem auch nur zur Kenntnis
zu nehmen, gar nicht mal renovierungsbedürftig vorkommt. Wer das adäquate
Rüstzeug nicht beisammen hat, sollte die 4000er der Alpen aber besser nicht
begehen wollen, sondern lieber weiter mit der Seilbahn brav aufs Nebelhorn
fahren.
Für gegebenenfalls in erstgenannter Richtung sensibilisierte und spezialisierte HistorikerInnen könnte sich dort
jedoch noch ein reiches Betätigungsfeld auftun.
Zantops Buch bedeutet in und für
Deutschland auf dem Weg dahin sicher einen Fortschritt: innovativ, befreiend,
aufbrechend.
[1]
Niethammer, Lutz in: Brüggemeier, Franz-Josef u.a., Leitfaden zum
Geschichtsstudium, Hagen 1991, S.1 und S.7;
[2] Christmann, Helmut u.a., Die Karolinen-Inseln in deutscher Zeit,
Münster 1991, S.91 und S.100 und S.138;
[3] Zantop, Susanne M., Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland,
Berlin 1999, S.21;
[4] ebd., S.21 und S.17;
[5] ebd., S.14f.;
[6] ebd., S.24f.;
[7] ebd., S. 25;
[8] ebd., S.29;
[9] Bitterli, Urs, die `Wilden´ und die
`Zivilisierten´, München 2/1991 (orig.1976) hat das klassische 4stufige
Kulturbegegnungsraster (touch-contact-collision-assimilation) entworfen. Im
Vorwort zur Neuauflage gibt er selbst zu, daß es aufgrund zahlreicher neuer
Erkenntnisse eigentlich "einen kostspieligen Neudruck erfordert"
hätte (S.8). Weiterhin unproblematisiert bleibt sein Bekenntnis, Neger als
Afrikaner und Juden als Israeliten zu bezeichnen, hieße "äußerliche
Rücksichten zu weit treiben"(S.7). Daß er im Unterkapitel zum
"Begriff der Rasse" allen Ernstes dessen "wissenschaftliche
Brauchbarkeit" annimmt, ja begrüßt (S.18), disqualifiziert ihn sowieso.
Die vorher erwähnten Titel lauten: Said, Edward, Orientalism, London 1978 und
Osterhammel, Jürgen, Europäische Expansion, Hagen 1992;
[10] Hiery, Hermann J., Die deutsche
Südsee, Paderborn 2/2002, S.198ff.;
[11] Eckert, Wolfgang U., Medizin und Kolonialimperialismus, Paderborn 1997;
[12] Balandier, Georges in: Albertini, Rudolf v., Moderne
Kolonialgeschichte, Köln 1970, S.109;
[13] Conrad & Randeria, Jenseits des
Eurozentrismus, Frankfurt 2002;
[14] Eibach & Lottes, Kompaß der Geschichtswissenschaft, Göttingen
2002, S.7;
[15] Berman, Russell A. in: Kundrus, Birthe, Phantasiereiche, Frankfurt
2003, S.30;
[16] Blaut, J.M., The Colonizer´s Model of the World, New York 1993;
Der Text wurde ursprünglich als Vortrag 2004 in Leipzig gehalten. Es handelt sich hier um die leicht überarbeitete und um bestimmte Spezifika bereinigte Fassung des Redemanuskripts. Das Thema des dortigen Seminars hieß: "`Ein Platz an der Sonne´, deutsche Kolonialherrschaft in der Südsee."